Stadttheater Giessen
    Stadttheater zeigt Menottis Oper "Goya" konzertant

    Stadttheater zeigt Menottis Oper "Goya" konzertant


    Konzertante Opern am Stadttheater haben Tradition. Im vergangenen Jahr begeisterte Verdis »Otello«, vor zwei Jahren war es Beethovens »Fidelio« - beides Stücke, die mit starker Sängerschar auch ohne Inszenierung in Bann zogen. Doch wer kam bloß auf die irrwitzige Idee, ausgerechnet Gian Carlo Menottis »Goya« konzertant aufzuführen?

    Das spätromantisch anmutende Werk mit seiner italienischen Kantilenenkunst um Freiheit, Liebe, Leid und Tod schreit geradezu nach einer Inszenierung, wie der Samstagabend im Großen Haus überdeutlich zeigte.

    Die Damen, allen voran Giuseppina Piunti und Carla Maffioletti, können nicht einfach nur singen, sie müssen dazu spielen, und auch ein Alexander Herzog braucht die Aktion, wenn er die Bühne betritt. Ergebnis war eine konzertante Oper mit schauspielerischen Einlagen, die zwar amüsierten, aber ein ums andere Mal den Finger in die Wunde legten.

    Menottis 1986 uraufgeführte Oper hätte jeden Bühnenbildner und Kostümschneider augenblicklich inspiriert. Erster Akt: Eine finstere Taverne in Madrid mit dem ausgelassenen Maler Goya, der sich in die vermeintliche Kammerzofe der Herzogin verliebt, die sich später als Dona Cayetana entpuppt. Szenenwechsel: der Palast voller Prunk und edlen Gemälden.

    Zweiter Akt: Empfang im Palast. Die eifersüchtige Königin platzt vor Wut, weil die Zofen der Herzogin das gleiche Kleid tragen wie sie. Es folgen spöttische Tiraden und herzzerreißende Duette rund um Liebe und Kunst. Goya malt die Herzogin, kehrt ihr dann doch den Rücken und wird darüber taub - vom Orchester mit pfeifenden Flageoletttönen in der Sekundreibung illustriert (für Puristen: Es sind die Töne B und H).

    Dritter Akt: Die Königin vergiftet Dona Cayetana, die Sterbende ruft nach dem tauben und mittlerweile auch erblindeten Goya, dessen letztes Stündlein in Bordeaux geschlagen hat. Dona Cayetana erscheint ihm in einer Vision - Goya stirbt in Frieden.

    Mit dieser üppigen, spannungsgeladenen und selten aufgeführten Oper hätte das Stadttheater mit einer prachtvollen Inszenierung für Furore sorgen können wie mit »Lo Schiavo« - Chance vertan.

    Carla Maffioletti (im hellblauen Abendkleid) bot eine köstlich zickige und lüsterne Königin mit ihrem einzigartigen, spitz austarierten Sopran, der in die höchsten Höhen sticht. Giuseppina Piunti als Dona Cayetana (im kleinen Schwarzen mit spanischer Stola) erstrahlte stimmlich und mimisch in der Rolle der Herzogin, die ihr auf den Leib geschrieben scheint. Die bühnenpräsente Mezzosopranistin verströmte ein betörendes, warmes Timbre, wie es im Stadttheater selten zu hören ist. German Villar als hin- und hergerissener Maler musste den umfangreichsten Part meistern - er wird an einem unerreichten Vorbild gemessen: Menotti hatte die Oper auf das Drängen von Startenor Placido Domingo komponiert, oder wie es Generalmusikdirektor Carlos Spierer im Vorfeld formulierte: Menotti hatte Domingo die Oper »in die Gurgel geschrieben«. Ergebnis sind Arien mit Höhen wie Brückenpfeiler, Kantilenen voller Inbrunst, Saft und Kraft. Villar bewältigte seinen Part mit Bravour, auch wenn ihm im dritten Akt hie und da die Durchschlagskraft ein wenig fehlte.

    Alexander Herzog als König schlenderte mehrfach auf die Bühne, um sogleich wieder abzugehen, weil seine Gattin hysterisch keifte - Maffioletti und Herzog hatten die Lacher auf ihrer Seite. Stimmlich ging der Tenor bisweilen im Tutti des Orchesters unter. Das gilt auch für die übrigen allesamt gut disponierten Sänger wie etwa Bariton Matthias Ludwig, der eindringlich sang, aber dem romantisch besetzten Ensemble im Nacken kaum Paroli bieten konnte.

    Den Chor des Stadttheaters (Einstudierung: Jan Hoffmann) auf die Hörplätze des zweiten Rangs zu verbannen (Herren links, Damen rechts), erzielte zwar einen Stereoeffekt. Der Große Saal aber war während der Chorpartien zu hell beleuchtet und die Sänger klangen von der Empore herab wie Fremdkörper, die sich nicht in den Duktus der Musik einzureihen vermochten.

    Menottis Verfügung, sein Libretto in englischer Sprache zu singen und nicht in italienischer (was ebenfalls möglich gewesen wäre), entpuppte sich in Gießen (deutsche Übertitel) keineswegs als gute Wahl, wie sich an der Aussprache der Sänger, die über alle erdenklichen Akzente verfügen, ablesen ließ. Am Samstag jedenfalls wirkte das wegen seiner guten Singbarkeit allenthalben hochgelobte Englisch sperrig.

    Die Maschinerie des Orchesters lief wie geschmiert. Die Vorliebe Spierers für die Spätromantik war in jeder Note spürbar. Der Dirigent, mit Lesebrille am Pult, kostete den Melodienreichtum, die Raffinesse und die Dynamikmöglichkeiten der Partitur samt zweier Intermezzi aus. Das spanische Kolorit bereitete allen Beteiligten hörbaren Spaß. Die Streicher demonstrierten großes Kino, die Bläser schlossen sich weitgehend nahtlos an. Die Celli, im zweiten Akt von pfeilschnellen Läufen gefordert, präsentierten sich in superber Spiellaune. Spierer formte einen Klangkörper voller Grandezza. Menotti (1911 - 2007), der alle Zuordnungen seiner Musik samt der üblichen mannigfaltigen und unsinnigen Kritik wegen seines Festhaltens am Tonalen klaglos über sich ergehen ließ, war in Gießen seit 1978 gern gesehener Gast und wohnte fast immer im Hotel am Kreuzplatz, im Theater stand für ihn zum Komponieren stets ein Zimmer bereit. In Gießen fühlte sich Menotti wie zu Hause. Er hätte seinen Spaß an diesem »Goya« gehabt und Spierer dankbar auf die Schulter geklopft. Im nicht ausverkauften Haus gab es am Ende lang anhaltenden Applaus für die Künstler.

    Wer den scheidenden Generalmusikdirektor noch einmal im Stadttheater am Pult erleben will, muss sich sputen. Es folgen nur zwei »Aufführungen« von »Goya« (21. und 24. Juni). Dann sind ebenso Carla Maffioletti, Matthias Ludwig und Alexander Herzog vorerst zum letzten Mal zu sehen und zu hören - auch sie verlassen nach dieser Spielzeit das Gießener Haus. Manfred Merz, 19.06.2011, Gießener Allgemeine Zeitung